BER.LIN

Berlin kann Freiheit. Alles an Berlin erscheint irreal, aber ich darf mich nicht dazu verführen lassen, hier einen Mythos suchen zu wollen. Ich hasse dich. Du machst mich allzu oft wahnsinnig mit deiner Ignoranz, deiner alternativen Lebensart, deiner Angeberei, deinen vollgestopften Straßen, den nie enden wollenden Baustellen, deiner Hässlichkeit, deiner Scheißegal-Haltung, deiner verdammten Anonymität. Weißt du was du für mich bist? Eine große Blenderin.

Aber Chapeau, du machst das richtig gut. Ich will tagein tagaus an dir riechen, in dich eintauchen, in dir abtauchen, mit dir verschmelzen, eins werden. Ich sehe dich durch meine rosarote Brille an, mit feuchten Augen, bete dich an, verzeihe dir alles – stets mit einem unsicheren Lächeln. Ichschreie: Nimm mich! Ich will dich! Dabei tust du noch nicht mal viel dafür. Du glänzt nicht mit Perfektionismus, Sauberkeit, Charme. Du gibst Dir keine Mühe. Im Gegenteil: Du bist schlampig, unordentlich, unangepasst. Ok, du bist hoch-historisch und lässt mich an der geschriebenen Geschichte teilhaben.

Auch wenn ich wirklich oft auf dich sauer bin, dich selten verstehe. Du bist immer da. Tröstest mich. Wir reden viel, raufen uns, vertragen uns. Du hast alles, was ich zum Leben brauche. Du bist perfekt. Ich liebe dich Berlin! Berlin ist mehr als eine Stadt, Berlin ist ein Gefühl. Zwischen Liebe und Hass schwankend, fordert sie einem einiges ab und gibt doch viel. Berlin ist wie eine Familie, oft nervend und dysfunktional, doch es bleibt der Ort, der mir Geborgenheit gibt. Berlin liebt oder hasst man, so wurde es mir prophezeit. Und es stimmt, Berlin lässt kaum Raum für Zwischentöne. Diese Stadt hat keine Geduld für Halbherzigkeit. Sie fordert, dass man sie lebt, tut man es nicht, zeigt sie einem die kalte Schulter. Wenn man länger hier ist, merkt man, dass man die Wahl zwischen Liebe und Hass nicht nur einmal trifft, sondern jeden Tag aufs Neue. Oft hält die Liebe Tage, oder sogar Wochen an, dann dominiert wieder der Unmut und man will nur noch raus aus diesem Moloch, der einen zu zermürben droht.

Die Revolution frisst ihre Kinder und so ist das auch mit der Freiheit. Dann ist man plötzlich mit der Frage konfrontiert: wie viel Freiheit ist zu viel und kann es überhaupt zu viel Freiheit geben? Die Ausbeutungen der Freiheit sind in Berlin omnipräsent. Ist das der Preis, den man zahlen muss? Berlin ist zu groß, zu voll, zu belagert, zu arm, um sich um Einzelschicksale wirklich kümmern zu können. Die Stadt verschluckt die Gestrauchelten und Gefallenen; sie gehen unter in der Masse. Doch manchmal bäumen sie sich auf, die Verdrängten, kämpfen sich an die Oberfläche und schreien uns ihr Elend ins Gesicht. Berlin schenkt einem unendliche Freiheit, aber das bedeutet auch, dass man Verantwortung übernehmen muss. Es liegt an uns, die Freiheit, die Berlin uns bietet, zu gestalten und das wird immer wichtiger. Es wird Zeit.

Text und Fotos: Frank Nordheim

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