KAS.SEL

D 's Werdchen is 'n Usspruch den nur 'n waschechter Kasseläner Windbiedl üwwer de Libben gricht. Das äß kin Gedicht sonnern ne mehr ne Archt Sprichwochd: "Ich will dä was schissen und Schäss sprechen." Das äß uss "D´s Werdchen" von Christejahn Duckefedd. - „Kassel - ein Name wie das Geräusch einer Katze, die einen Haarballen aushustet“ (Mona Vetsch vom Züricher Tages-Anzeiger über Kassel) - Kassel kennen viele aus dem Intercity, weil man dort kurz hochschreckt. Ansichten bezeichnen eine Meinung, eine optische Wahrnehmung, eine Darstellung von Objekten, ein Porträt. Kassel . Ansichten zeigt andere Ansichten.
Weil ich es mag.

Skurriles aus Kassel

Eine deutsche Stadt, in der man nicht gewesen sein muss, bietet historische Führungen und das wohltuende Gefühl, nichts verpassen zu können. Ein Penner, der durch den offenen Hosenschlitz sein Gemächt richtet, das ist das Erste, was ich von Kassel sehe. Es schneit aus bleiernem Himmel. Eine Minute später durchwandere ich bereits historisches Gelände. Die Treppenstrasse ist Deutschlands älteste Fussgängerzone. Trostlose Nachkriegsbauten links und rechts, einige Schaufenster sind mit Packpapier zugeklebt, die Schilder verblichen. Hundert Meter Tristesse. Eine junge Frau kommt mir entgegen, sie trägt zu enge Jeans und einen Schnuller im Mund. Es ist nicht leicht, Kassel zu lieben.

Keine Amerikaner in Turnschuhen - «Gibts denn über Kassel etwas zu berichten?», wundert sich die Ladenbesitzerin, die mir warme Socken verkauft. Wenn Fremde herkommen, dann für gewöhnlich nicht, weil sie sich für Kassel interessieren. Hier trifft man sich für Sitzungen und Kongresse. Seit dem Fall der Mauer liegt Kassel im Herzen von Deutschland, mit dem Auto ist man in drei Stunden in Hamburg oder Stuttgart, die Bahnverbindungen sind gut. Die, die geblieben sind, sitzen mit Eduscho-Gesichtern in den Einkaufszentren und starren auf die Auslagen der Billigschuhläden. Man hat zwanzig Prozent Arbeitslosigkeit, die dritthöchste Museumsdichte Deutschlands und keine weiteren Ambitionen. Das Leben zieht sich Filzpantoffeln über, wenn es nach Kassel kommt. Im Tourismusbüro drückt mir Frau Winter ein Faltblatt in die Hand. «Kassel bei Nacht», eine Stadtführung mit Fackeln und einem Führer im Historienkostüm.

Kassel - ein Name wie das Geräusch einer Katze, die einen Haarballen aushustet. 200 000 Einwohner, man arbeitet bei VW oder im Achsenwerk von DaimlerChrysler. Einst war Kassel reich, später nur noch hübsch, dann kam der Krieg. Die Fachwerkhäuschen, die so eng standen, dass sich die Nachbarn von gegenüber hoch über den Gassen mit Händedruck begrüssen konnten, sie fielen in der Nacht der 400 000 Bomben. Tausende starben. «Die meisten sind erstickt», sagt die Dame, die mich mit ihrem Schirm vor den Schneeflocken schützt, «keine Luft mehr, nur Rauch.» Sie wohnt hier ganz in der Nähe, kennt sich aus, genau wie der Rest unserer Nachtwandergruppe. Keine Amerikaner in Turnschuhen, keine fotografierenden Japaner. Nur Einheimische. Was lässt man sich bitte schön durch die eigene Stadt führen, frage ich einen wetterfest verpackten Ruheständler. «Ach wissen Sie», sagt der, «wir kennen uns aus der Jugendzeit und unternehmen alle zwei Wochen was zusammen, und so viel geht hier halt nicht in Kassel.»

Gestopfter Darm und Fussgängerzone - Dafür marschiert unser Stadtführer Wolfgang flott vornweg. Er macht für uns den «landgräflichen Kavalier», ausgehendes 18. Jahrhundert. Von seinem selbst genähten Kostüm sehe ich nur den Rockzipfel. Er verschwindet immer schon um die nächste Hausecke, kaum habe ich aufgeschlossen.

Fragt man junge Menschen, was man in Kassel gesehen haben muss, erntet man leere Blicke. Fragt man die Alten, so sagen sie: den Bergpark Wilhelmshöhe. Aber bei dem Schnee komme man da nicht hinauf, sagt der Mann mit dem grünen Lodenhut, «das knirscht hier ja wie in Ostpreussen». Wir stapfen die «Schöne Aussicht» entlang, alle zwei Schritte winkt hier die Geschichte. Das Gebrüder-Grimm-Museum, die Orangerie, Sommerresidenz des Landgrafen Karl, die weiten Parkanlagen der Karlsaue. Nur habe ich gerade keinen Sinn dafür. Der Mann, den sie Hans rufen, erzählt mir von seinem Heimatdorf bei Königsberg, Ostpreussen, von der Flucht, als die Rote Armee kam. Vor zehn Jahren ist er mit seiner Frau dahin zurückgekehrt, zum ersten Mal seit dem Krieg. Er wollte ihr zeigen, wo er seine Kindheit verbracht hat. «Aber da war nichts mehr. Kein einziger Stein.» Er hat ein Foto gemacht von seiner Frau neben dem Bauernhaus, das es nicht mehr gibt. Zur Erinnerung.

Ich weiss jetzt, wo die Landfürsten ihr Frühstück einnahmen und wo sie in Wein badeten. Ich weiss, dass das Schloss von Napoleons Bruder Jérôme niederbrannte, weil Monsieur die Öfen mit Holz verkleidet hatte. Löschen ging nicht, die nahe Fulda war zugefroren. Und ich weiss, dass man in die Markthalle gehen muss, um «Weckewerk» zu probieren. Das ist Kasseler Spezialität, Darm gestopft mit Fragen-Sie-nicht-was-allem. Der Rückweg führt am Fridericianum vorbei, dem ersten öffentlichen Museum Europas. Noch so eine unschuldige Attraktion. Es ist zehn Uhr abends, kein Mensch zu sehen. Die Innenstadt hat aufgehört zu atmen.

Ich bleibe vor dem Merceriegeschäft mit dem Schild «Aufgeknöpft und zugenäht» stehen und warte. Gleich werden die schwarzen Karren kommen und die Pesttoten aus den Häusern holen. Dann fällt mir ein, dass das nicht sein kann. Hier ist ja Fussgängerzone - die erste Deutschlands!

Quelle: Mona Vetsch, Züricher Tages-Anzeiger 07. März 2006

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