Der Bahnhof - eine Selbsterkenntnis

Der Bahnhof erweist sich nicht nur als Ort der Sehnsucht, sondern auch der Erkenntnis. Vor allem der Selbsterkenntnis. Ein Bahnhof ist keine Kirche. Er ist eine Kathedrale der Moderne. Und manchmal ist er nur ein scheußlicher Ort, an dem es zieht und stinkt.

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Der Bahnhof ist trotzdem ein besonderer Raum. Der Bahnhof verrät uns, dass es eine Sehnsucht gibt, die nie stirbt und die noch stärker ist als die nach der Ferne: Die Sehnsucht nach dem Unerklärlichen. Ausgerechnet diese steinernen, stählernen, gläsernen Monumente der Mobilität mit ihren Haupt- und Nebengebäuden, diese Zeichen des Fortschritts, der stets einher geht mit der Entzauberung der Welt, wurde von der Moderne als Kultstätte des Übersinnlichen entdeckt.

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„Die Mysterien finden im Hauptbahnhof statt“, hatte der Künstler-Revolutionär Joseph Beuys gesagt. Beuys ging davon aus, dass neben der sinnlich wahrnehmbaren Welt eine andere, geistige existiert. So wie Beuys glaubte, dass jeder ein Künstler sei, glaubte er auch, dass sich das Geistige, Geheimnisvolle nicht nur an heiligen Orten entfalte, sondern überall und besonders dort, wo sich Menschen einander und sich selbst so intensiv begegnen wie am Bahnhof.

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Man muss kein Anthroposoph sein, um zu spüren, das am Bahnhof etwas Außergewöhnliches mit uns geschieht. Er lüftet die Geheimnisse unseres Menschseins. Früher, als es sich noch nicht gehörte, auf der Straße Gefühle auszutauschen, Händchen zu halten, die Liebsten zu küssen – da begaben sich Paare auf den Bahnhof. Zärtlichkeiten waren hier unverdächtig. Ging man doch davon aus, dass sich da zwei Menschen in den Armen liegen, die sich lange nicht gesehen haben oder lange nicht sehen werden. Der Bahnhof zeigt uns, welcher Gefühle wir fähig sind. Am Bahnhof konzentrieren sie sich wie die in einer Soße eingekochten Aromen. Aufbrechen, Ankommen, Erwarten, Verabschieden. Angst vor der Ungewissheit. Es ist nicht nur angenehm, was wir am Bahnhof erleben.

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Er ist ein gesellschaftlicher Mikrokosmos. Am Flughafen ist es anders. Da warten wir im Warmen auf die freundliche Aufforderung, an Bord zu gehen, in Wolken aus Kaffee und teurem Aftershave. Am Bahnhof begegnen wir neben dem Bundestagsabgeordneten im ICE-Gleisabschnitt für die erste Klasse auch die verstohlenen Blicke derer, die uns reflexartig nach der Geldbörse in der Manteltasche greifen lassen. Da denken wir an verstörende Videoaufnahmen von Gewalttätern, kriegen das Bild von dem Mann nicht aus dem Kopf, der in einem Berliner U-Bahnhof einfach eine junge Frau die Treppe herunterstieß, suchen ängstlich nach dem Geländer. Der Bahnhof ist auch ein Ort der Irritation, der uns Halt- und Orientierungslosigkeit vor Augen führt. Er ist auch die Heimat der Entgleisten. Der Frauen und Männer, deren einziges Dach das über den Gleisen ist. Aber hier sind auch die anderen, die Frauen und Männer von der Heilsarmee oder der Bahnhofsmission. Die, deren Menschenliebe Unzähligen Hoffnung gibt. Oder wenigstens eine warme Suppe.

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Manchmal werden wir am Bahnhof ausgebremst, gezwungen, inne zu halten. Den Termin im Nacken und nicht weiter können, weil der Zug nicht kommt, weil wir ihn verpasst haben – das ist, als hielte der Bahnhof uns gefangen. Kein schönes Gefühl. Aber auch eine Chance, das Beste draus zu machen, die Zwangspause als geschenkte Zeit zu nehmen, um jemanden anzurufen zum Beispiel, mit dem man lange nicht gesprochen hat oder ein Buch zu kaufen oder einfach nachzudenken.

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Was uns da bewusst werden kann, ist ungeheuerlich: Dass das Leben derjenigen, die nicht in Kriegsgebieten leben, die ein warmes Zuhause haben, die von Freunden und Verwandten, Geschäftspartnern oder Arbeitskollegen erwartet werden, dass unser Leben eine Wundertüte ist. Voller Geschenke, für die wir dankbar sein können und zu deren größten die Freiheit gehört. Die Freiheit, unseren Sehnsüchten freien Lauf zu lassen. Wo, wenn nicht am Bahnhof, der uns, so abgelegen und winzig er auch sein mag, mit der ganzen Welt in Verbindung setzt.

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