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In den Straßen am Kassler Königsplatz sieht es auf den ersten Blick aus wie in einer ganz normalen deutschen Stadt: Nachkriegshäuser und Buttercremetortenwohlstandscafés aus den fünfziger Jahren, eine Trambahn, ein Saturn-Markt, ...

... dahinter ziehen ein paar heitere Wolken hinter den Doppeltürmen der Martinskirche vorbei. Doch je genauer man hinschaut, desto surrealer wirkt alles: Ein Laden für Sporternährung heißt „Body Attack“, auf dem Werbeschild eines Friseurs sind im Wort „Friseur“ die Buchstaben IS, warum auch immer, rot eingefärbt, eine Schmiererei will „Merkel weg“ haben – die Worte in der Stadt schreiben einen eigenartigen, surrealen Angsttext.

 

 

Seit kurzem steht dazu mitten auf dem Königsplatz ein 16 Meter hoher Obelisk aus Beton mit einer arabischen Inschrift. Ein Mann steht vor den Schriftzeichen, tritt ratlos zurück, geht einmal um den Obelisken herum und kommt zufrieden nickend wieder hervor - auf den anderen Seiten steht die Botschaft auch auf türkisch, englisch und deutsch: „Ich bin ein Fremdling gewesen, und ihr habt mich beherbergt“, ein Zitat aus der Heilsbotschaft nach Matthäus, das zentrale christliche Bekenntnis zur Gastfreundschaft. Der Obelisk ist ein Kunstwerk des aus Nigeria stammenden, seit langer Zeit in den Vereinigten Staaten lebenden Künstlers Olu Oguibe, der den Obelisken als Form auch deswegen ausgewählt hat, weil es erst die Römer, dann andere europäische Kolonisatoren waren, die in Nordafrika – der Heimat Christi – die Obelisken abräumten und das Zeichen aus der Fremde in Rom oder Paris als Zeichen ihrer Weltherrschaft aufstellten.

 

 

Das unübersehbare Beton-Ausrufezeichen für die Gastfreundschaft zeigt auch schon sehr deutlich, wie via Kunstwerk bei dieser Documenta politische Themen gewissermaßen mit der symbolbildnerischen Dampframme in den öffentlichen Raum hineingedonnert werden. Wer sich Sorgen machte, dass, nachdem die Documenta zum ersten Mal in ihrer Geschichte zunächst in Athen eröffnete (F.A.Z. vom 8. April) und Kassel nur die zweite Station wird, dort kaum etwas zu sehen sein würde, kann beruhigt werden: Den zweiten Teil der Documenta könnte man nach allem, was in der Stadt an Kunst in den öffentlichen Raum gestellt wird, auch Monumenta nennen. Überall stehen riesenhafte Skulpturen herum – hier ein Betonobelisk, dort die Türme der Torwache, in denen einst die Brüder Grimm wohnten und die jetzt selbst wie verzaubert dastehen, weil der 1987 in Ghana geborene Ibrahim Mahama ihnen einen gigantischen Mantel aus Kaffeesäcken über den Kopf gezogen hat - jetzt sehen sie nicht mehr wie Gebäude, sondern wie fremde Felsen aus (die Säcke sollen laut Documenta-Führer als Symbol der Globalisierung gelesen werden, da sie in China hergestellt, in Ghana befüllt und dann weltweit exportiert werden).

 

 

 Vor der Documentahalle sieht man einen großen Stapel Abwasserrohre, die der aus dem Irak geflohene Hiwa K. mit Studenten in Minimalbehausungen umbaut, was einerseits an das Überleben während der Flucht, andererseits an die Frage nach dem absoluten Minimum an Privatraum thematisieren soll, gegenüber die Rekonstruktion des „Parthenons der Bücher“, den die argentinische Künstlerin Marta Minujín 1983 in Buenos Aires aus Baugerüsten errichtete und Büchern behängte, die während der Militärdiktatur verboten waren. Das vermutlich größte Documenta-Werk seit langem steht vor dem klassizistischen Fridericianum und lässt dieses wie eine käsige Kopie griechischer Pracht aussehen: der berühmteste griechische Tempel steht dort nun als Gerippe, was man als Kritik an der Austeritätspolitik lesen kann, Säulen und Giebel sind wie in Buenos Aires mit Büchern behängt, die irgendwo auf der Welt einmal verboten waren, was die Documentamacher als Kritik an der wachsenden Einschränkung der Meinungsfreiheit verstehen wissen wollen. Jenseits solcher inhaltlichen Aufladungen ist der monumentale Tempel mit seinen schimmernden, weil in Plastik eingeschweißten Büchern formal beeindruckend, der Bau sieht gleichzeitig riesig aus und so leicht, als ob er sich gerade erst manifestiert, als sei er noch nicht ganz da, noch halb Fata Morgana: Ein Gespenst mit einem Paillettenkleid aus verbotenen Gedanken.

 

 

Es sind dann gar nicht einmal die großen, sondern die fast unsichtbaren Eingriffe, die die Stadt zu einem Gesamtkunstwerk im Sinne der Situationisten machen, die das ganze öffentliche Leben mit Kunst durchwirken, überformen und auseinandernehmen wollten: Selten wurde auf einer Documenta so massiv die Beschränkung aufs Visuelle kritisiert. Überall flüstert, pocht, zirpt, klingt etwas, in Kassel dringt ein Flüstern aus einem alten Opel, ein Werk von Pope L.. Es ist, als hätte man plötzlich Stimmen im Kopf, eine akustische Halluzination: Die Stadt spricht zu Dir, alles wirkt verzaubert.
 
 
Viele der großen Skulpturen fallen allerdings vor allem dadurch auf, dass sie eine sehr simple Idee mit ungeheurem Materialaufwand illustrieren. Vor der Orangerie hat Antonio Vega Macotelas eine große, so genannte „Blutmühle“ aufgebaut – eine technisch perfekte Rekonstruktion der Mühlen, die die spanischen Kolonialherren errichten und die von indigenen Sklaven betrieben werden mussten. Mit der Mühle in Kassel kann man kleine Silbermünzen prägen – ein sehr aufwendiges Bild für die bekannte Tatsache, dass Wohlstand der Kolonisatoren aus den Körpern der indigenen Bevölkerung gewonnen wurde. So interessant es ist, wie bei dieser Documenta versucht wird, die Kunstgeschichte um außereuropäische, indigene und übersehene Künstler zu ergänzen und gleichzeitig auf Themen wie Migration und den Körper in der marktökonomisch rationalisierten Welt zu reagieren, so entnervend ist oft die Art, wie da Künstler mit einem enormen, manufactumhaften Aufwand politische Allgemeinplätze illustrieren.
 
 
Und umso spannender ist es, wie nicht weit von der Blutmühle, in den Auen eine andere Idee von politischer Kunst vorgeführt wird, die sich nicht auf Symbolbilder beschränkt. Politiká bezeichnete im antiken Griechenland ja alle Fragestellungen, die die Polis betrafen, heißt also wörtlich „Dinge, die die Stadt betreffen“ – und vielleicht ist es kein Zufall, dass die Politisierung der Kunst, die sich die Kuratoren erhoffen, am ehesten in einer kleinen Stadt stattfinden: Mitten im Park baut das chilenische Kollektiv Ciudad Abierto den „Pavilion of Hospitality“, der das Motiv der Gastfreundschaft aufgreift.
 
 
Ciudad Abierto ist eine kleine Idealstadt im Norden von Valparaiso, die 1971 in den menschenleeren Dünen am Pazifik von einer Gruppe von Künstlern, Poeten und Architekten errichtet wurde. Ciudad Abierto, die offene Stadt, besteht aus improvisierten Gebäuden und sollte schon damals ein Gegenmodell zur euro-amerikanischen Stadt und dem Leben darin sein. Beeinflusst von dem Poeten Godofredo Iommi und dem Avantgarde-Maler Joaquín Torres García, aber auch vom Improvisationstheoretiker Yona Friedman bauten die Bewohner dort temporäre Pavillons und feste Häuser, statt Straßen gab es Dünen, in denen man liegen und sitzen konnte und die so auch die Möbel ersetzten – Theateraufführungen finden am Fuß einer Düne statt, die als Auditorium dient.
 
 
Am Montag vor der Eröffnung kam Cecilia Vicuna, die chilenische Dichterin und Künstlerin, die in Kassel wie in Athen ihre riesigen roten Stoffknotenkunstwerke zeigt, und gab eine kleine Vorstellung, sang ein paar Lieder und erzählte den Studenten, die an den Pavillons bauen, von den Dünen und der wünschenswerten Versandung des Lebens, ein paar Ciudadanos luden zu einem Assoziationsspiel ein, weiter hinten diskutierte ein Ingenieur über das, was Ciudad Abierto auch ausmacht, nämlich über ressourcen- und umweltschonendes Bauen, und so sah das Ganze in seiner beiläufigen Leichtigkeit auf einmal viel zukünftiger und gegenweltlicher und damit politischer aus als die angestrengte Bebilderung bekannter politischer Missstände nebenan.
 
 
In Europa war diese Utopie einer offenen, improvisierten Stadt, einer Kommune ohne die ideologischen und rituellen Zwänge einer Kommune, kaum bekannt, bis der Kurator Dieter Roelstraete sie zur Documenta brachte. Dort bauen sie eine Art Manifestbau – da werden Tische gezimmert und leichte Stoffbahnen zu zauberhaften Labyrinthdächern zwischen die Bäume gespannt, es gibt Diskussionen und gemeinsame Poesievorlesungen, und es ist auf einmal viel besser zu verstehen, was die Erfindung von Formen und Räumen mit Politik zu tun hat: Die Kunst beschränkt sich hier nicht auf Symbolproduktion, sondern schafft Räume, in denen man ganze Tage verbringen kann, eine Idealwelt, in der an langen Tischen vorgetragen, diskutiert und gefeiert, in Nischen, unter luftigen Dächern, auf Bäumen geschlafen, an Bühnen und Häusern gebaut wird, in denen das Verhältnis von Arbeit und Wohnen, Bildung und freier Zeit ganz anders organisiert ist als in allen Städten und Orten, die wir kennen. Ist der Gang aufs Land immer ein depressiver oder eskapistischer Rückzug aus der städtischen Zivilisation, oder kann auf dem Land ein Gegenmodell entwickelt werden, das dann auch in die Städte abstrahlt? Das ist eine der Fragen, die Ciudad Abierta stellt.
 
 
Letztendlich muss man auch die Orte, die die Kuratoren auswählten, selbst als Skulpturen und als politische Statements sehen: In Athen waren es die öffentlichen Kulturinstitutionen, die aufgrund der Austeritätspolitik von der Schließung bedroht oder nie geöffnet waren, in Kassel sind es Orte wie das ehemalige Briefverteilungszentrum, ein brutalistischer Riesenbau aus den siebziger Jahren, in dem sich das ganze Selbstbewusstsein und der Organisationsstolz der alten Bundesrepublik abbildet. Man kann die Wahl dieses Orts nostalgisch finden – oder als ein politisches Statement lesen gegen die Privatisierung und Erosion öffentlicher Infrastruktur, schließlich war die Deutsche Bundespost einmal ein staatseigenes Unternehmen und größter Arbeitgeber der Bundesrepublik - bis mit ihrer Privatisierung 1994 ihr Niedergang begann.
 
 
Nicht immer kann die Kunst mit den Orten mithalten, und je banaler das Werk, desto mehr geben die Katalogschreiber Gas: Agnes Denes’ bepflanzte Pyramide „ist eine soziale Struktur – sozial, weil das gepflanzte Material Vorstellungen von Evolution und Regeneration vermittelt; die Arbeit fördert außerdem eine Mikrogesellschaft aus Menschen, die sich um Bepflanzung und laufende Pflege kümmern.“ So klingt es, wenn in der Kunstwelt zwei Leute Blumen gießen.
 
 
Die Kunst, für die sich die Documenta-Macher interessieren, scheint immer schwerer aus ihrem lokalen Kontext herauszulösen zu sein. So gesehen war es eine wichtige Leistung und konsequent, die Documenta nach Athen zu verlagern. Viele Werke in Kassel, die man auf der hervorragenden Website einsehen kann, sind Verweise auf einen anderen Ort, an denen die Kunst eigentlich stattfindet oder stattfand – Ciudad Abierta etwa, und auch der „Parthenon der Bücher“ hatte bei aller formaler Schönheit 1983 in Buenos Aires eine andere Dringlichkeit. Die etwas poesiealbenhafte Weisheit „Being safe is scary“, die über dem Eingang des Fridericianums montiert wurde, drückt so gesehen vielleicht auch die Angst der Documenta-Macher aus, dass die Kunst vielleicht gerade etwas ganz anderes als die Sicherheit einer etablierten Großausstellung in einer mittelgroßen deutschen Stadt brauchen könnte.
 
 
 
Textquelle: F.A.Z. 09.06.2017
Fotos: Frank Nordheim
 

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